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Frauen in Afghanistan
Frauen in Afghanistan

Frauen in Afghanistan: Gespräch mit Zarghuna Wali

Portrait der Bremerin und afghanischen Frauenrechtlerin Zarghuna Wali

Von Ricarda Knabe und Katja Fritsche

Zarghuna Wali ist eine starke Frau voller Energie. Bei unserem Gespräch wirkt die 51-jährige Bremerin, die sich seit fast 30 Jahren für die Rechte von Frauen und Mädchen in Afghanistan einsetzt, für Momente aber auch müde und erschöpft. Nervös spielt sie mit ihrem silbernen Ring, den sie an der linken Hand trägt und in dessen Mitte ein Türkis leuchtet. Seit die Taliban am 18. August 2021 erneut die Macht in Afghanistan erobert haben, erreichen sie verzweifelte Hilferufe von bedrohten Frauen- und Menschenrechtler*innen per WhatsApp. Diese bitten sie um Unterstützung, damit sie das Land verlassen und nach Europa, Kanada oder die USA ausreisen können.

Für Zarghuna Wali ist es, als würde sich ihre eigene dramatische Lebensgeschichte wiederholen. Nach abgeschlossener Lehrerausbildung arbeitete sie bis Mitte der 1990er Jahre in Kabul im staatlichen Büro für Frauenrechte. Sie organisierte Alphabetisierungskurse für Frauen, Fortbildungen zu Kinderpflege, Erziehung und Frauenrechten, vermittelte Mädchen und Frauen in Schulausbildung und Beruf.

Als die Taliban von 1995 an nach und nach die afghanischen Provinzen eroberten und am 27. September 1996 in Kabul einmarschierten, verließ sie mit ihren sechs Kindern ihre Heimat. „Die Taliban bedrohten mich, weil ich mich für die Rechte von Frauen eingesetzt hatte. Wie alle Frauen stand ich plötzlich de facto unter Hausarrest, denn ohne männliche Begleitung durften Frauen ihre Wohnung nicht mehr verlassen“, erinnert sie sich. „Die Taliban gingen extrem gewalttätig gegen Frauen vor. Frauen wurden auf der Straße geschlagen und öffentlich gesteinigt.“

Weil sie bedroht war und keine Perspektive mehr sah, wollte sie zu ihrem Bruder nach Deutschland. Zwei Jahre dauerte die Flucht über Pakistan, den Iran, die Ukraine und Russland, bis sie 1999 in Deutschland ankam. Deutsch lernte sie an der Volkshochschule in Hamburg. Dort schloss sie auch eine Ausbildung zur Pflegehelferin ab und arbeitete im Krankenhaus. 2010 zog sie nach Bremen, wo sie als Altenpflegerin beschäftigt ist. „Auch alle meine Kinder sind berufstätig und gut integriert“, berichtet sie stolz.

Seit 2016 produziert Zarghuna Wali gemeinsam mit einem Kollegen aus Hamburg ein einstündiges Fernsehprogramm für den amerikanischen TV-Kanal Bahar TV, der für die weltweit verstreute afghanische Community auf YouTube zu sehen ist. „Tür zum Frühling“ heißt die von ihr produzierte Sendung für Afghan*innen in Deutschland, die über die Rechte von Geflüchteten und Frauen, die Situation von Jugendlichen, über Kultur, Literatur und politische Entwicklungen informiert. In den vergangenen Jahren hielt Zarghuna Wali engen Kontakt zu Frauen- und Menschenrechtsorganisationen in Afghanistan.


vhs: Das aktuelle vhs-Programm erscheint unter dem Schwerpunktthema Geschlechtergerechtigkeit. Das ist eines der 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung der UN. Deshalb möchten wir mit Ihnen über die Situation von Frauen und Mädchen in Afghanistan sprechen.

Was hatte sich in ihrem Heimatland in den vergangenen 20 Jahren mit der Präsenz der internationalen Truppen für Frauen und Mädchen verändert? Etwa in den Bereichen Schul- und Universitätsbildung, Berufstätigkeit, politische Teilhabe, Zwangsheirat und häusliche Gewalt?

Zarghuna Wali: Auch in den vergangenen 20 Jahren bestand in Afghanistan die Gewalt gegen Frauen fort. Aber in den Städten wurden Frauen sichtbar. Sie arbeiteten in höheren Positionen, als Lehrerinnen an Schulen, als Dozentinnen an der Universität, als Richterinnen, im diplomatischen Dienst, als Abgeordnete im Parlament. Und junge Frauen hatten Zugang zu universitärer Bildung.

Ich selbst trat 2018 als Kandidatin bei den Parlamentswahlen an. Internationale Geldgeber förderten ja Programme zur Stärkung von Frauenrechten. Auch weil sich die Wirtschaft positiv entwickelte und sich die allgemeine Lebenssituation verbesserte, konnten viele junge Menschen studieren.

vhs: Gab es solche Veränderungen auch in ländlichen Regionen?

Zarghuna Wali: Da wurden zwar mit internationaler Unterstützung Straßen gebaut und die Infra- struktur verbessert, aber vielerorts setzten sich die kriegerischen Auseinandersetzungen fort. Es herrschte vielfach weiterhin extreme Armut und nach wie vor wurden dort Mädchen und junge Frauen zwangsverheiratet.

vhs: Am 18. August 2021 ergriffen die Taliban mit der Eroberung Kabuls offiziell die Macht in Afghanistan. Was hat sich mit diesem Tag für die Frauen und Mädchen in Afghanistan verändert?

Zarghuna Wali: Es wurden sofort alle Schulen geschlossen und Frauen gingen aus Angst nicht mehr aus dem Haus. Jetzt können sie nur noch mit Burka auf die Straße gehen. Sie sind nicht mehr sichtbar im öffentlichen Leben. Am 18. September 2021 lösten die Taliban das Frauenministerium auf. Das Gebäude ist jetzt Sitz der Religionspolizei, offiziell des Ministeriums für Gebet und Orientierung sowie zur Förderung der Tugend und zur Verhinderung von Lastern.

Zwar findet an der Universität und den Schulen nun wieder offiziell Unterricht unter strikter Trennung der Geschlechter statt, aber die Realität sieht anders aus. Wenn Frauen die Universität betreten, schicken einzelne bewaffnete Taliban sie mit drohenden Worten wieder nach Hause: „Komm nie wieder!“


*Zarghuna Wali moderiert ihre Sendung für die Afghanische Community im Ausland

vhs: Welche konkreten Auswirkungen hat die Rollenzuschreibung der Taliban für die Frauen?

Zarghuna Wali: Nach den Vorstellungen der Taliban sollen Frauen nun nur noch im Haus bleiben und für die Männer der Familie arbeiten. Sie dürfen sich nicht schminken und keine bunten Kleider tragen. Dagegen protestierten Afghaninnen im Netz mit ihren traditionellen, sehr farbenprächtigen Trachten.

Und alleinstehende Frauen können nicht mehr arbeiten. Sie und ihre Kinder hungern deshalb.

Für Frauen und Kinder ist die Situation auch aufgrund des wirtschaftlichen Zusammenbruchs nach dem Sieg der Taliban dramatisch. Die Banken sind geschlossen. Es gibt keine Lebensmittel zu kaufen. Vorgestern starben acht Waisenkinder in einem Stadtteil Kabuls an Unterernährung. Ihre Mutter war gestorben, den Vater hatten die Taliban abgeholt. Eine Nachbarin versorgte sie, hatte dann aber selbst nichts mehr zu essen. Gemeinsam mit anderen afghanischen Frauen haben wir deshalb eine Online-Petition an die UNO geschickt, damit sie Lebensmittel nach Afghanistan liefern lässt.

vhs: Was geschieht, wenn Afghaninnen gegen die neuen Machthaber protestieren?

Zarghuna Wali: In den ersten Wochen organisierten Frauen- und Menschenrechtsorganisationen aus Protest Demonstrationen, die von den Taliban brutal auseinandergeprügelt und aufgelöst wurden.

Inzwischen herrscht nackte Angst. Nachts kommen bewaffnete Kommandos der Taliban zu Häusern und Wohnungen. Sie schlagen gegen die Türen und schreien: „Ihr Ungläubigen! Was habt Ihr für die Nato gemacht?“ Und dann nehmen sie die Männer mit, die Väter und Brüder der Frauen. Im besten Fall schlagen sie sie nur mit Stöcken oder peitschen sie aus. Andere ver- schleppen sie. Sie kommen nicht mehr wieder, sie verschwinden und die Familie weiß nicht, ob sie noch leben.

Alle, die für NGOs oder die Nato gearbeitet haben, alle die sich für Frauen- oder Menschen- rechte eingesetzt haben, sind bedroht und brauchen Hilfe. Sie können von einem Moment auf den anderen verhaftet werden und wechseln aus Angst vor Verfolgung jeden Tag ihr Quartier.

Hier unterbricht Zarghuna Wali das Interview und spielt eine WhatsApp-Nachricht ab. Die aufgeregte Stimme einer Frau ist zu hören. Sie setzte sich in einer Provinzhauptstadt für Frauenrechte ein. Die Frau berichtet, dass ein Bekannter sie anrief und warnte: “Ich habe zufällig mitgehört, wie sich Taliban nach dir erkundigten. Sie fragten, wo du zu finden bist. Pass gut auf dich auf!“ Panik und Verzweiflung liegen in der Frauenstimme. “Was soll ich jetzt machen? Wir sind richtig in Gefahr!“ – damit endet ihre Sprachnachricht.

Zarghuna Wali hat versucht, ihr persönlich bekannte Frauenrechtlerinnen, Journalist*innen sowie aus anderen Gründen gefährdete Menschen bei der Evakuierung aus Afghanistan zu unterstützen. Bisher konnte jedoch keine dieser Personen Afghanistan verlassen.

Wenige Tage nach unserem Interview wird aus der afghanischen Provinz Masar-i-Scharif berichtet, dass vier Frauen ermordet aufgefunden wurden. Darunter eine bekannte Frauenrechtlerin.

vhs: Was kann der Westen, was können wir in Deutschland in der aktuellen Situation für Frauen und Mädchen in Afghanistan tun?

Zarghuna Wali: Wichtig ist, dass Deutschland und andere westliche Staaten bei den Verhandlungen mit den Taliban weiterhin Druck ausüben, um Verbesserungen der Situation von Frauen und Mädchen zu erreichen. So dürfen Frauen jetzt zwar nicht mehr ohne männliche Begleitung reisen, aber die Taliban machen Zugeständnisse beim Besuch von Schule und Universität.

In Bremen organisierte die afghanische Community gemeinsam mit dem Flüchtlingsrat Mitte Oktober 2021 eine Demonstration und startete zuvor eine Petition für ein Landesaufnahmeprogramm für vulnerable und gefährdete Menschen aus Afghanistan, dazu gehören Frauen und Kinder. Bei der Übergabe der Unterschriften an den Bremer Bürgermeister sagte dieser zu, dass das Land Bremen ein solches Landesaufnahmeprogramm vorlegen wird.

*Bilder und Fotos von Zarghuna Wali

vhs: Und was könnten deutsche Ämter und Behörden darüber hinaus für Frauen, Mädchen und politisch Verfolgte in Afghanistan tun?

Zarghuna Wali: Besonders dringlich ist es, dass sich das Auswärtige Amt in Verhandlungen für die Ausreise von gefährdeten Personen einsetzt und ihre Ausreise organisiert, so wie das die USA derzeit für ihre verbliebenen Ortskräfte und Menschenrechtsaktivist*innen tun.

Und vom Senator für Inneres in Bremen wünsche ich mir eine großzügige Regelung für den Nachzug gefährdeter Familienangehöriger im Rahmen des Landesaufnahmeprogramms. In den bisherigen Programmen war es nämlich so geregelt: Nur wenn du gut verdienst und den Unterhalt für die Familienangehörigen aufbringen kannst, stimmt das Migrationsamt ihrer Einreise zu und die Auslandsvertretung erteilt das Visum. Auch ist der Begriff der Kernfamilie sehr eng gefasst. Kinder, die älter als 18 Jahre sind, gehören z. B. nicht dazu. Familienangehörige aus Afghanistan können deshalb nicht ausreisen und nach Deutschland kommen, auch wenn sie sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten für westliche Werte, für Frauen- und Menschen- rechte engagierten und nun deshalb von den Taliban bedroht werden.

Viele unserer Kursteilnehmenden aus Afghanistan bewegen derzeit ähnliche Sorgen. Sie trauen sich jedoch nicht, diese öffentlich zu machen. Aus Angst davor, damit ihre Familienangehörigen in Afghanistan zu gefährden. Umso mehr danken wir Zarghuna Wali, dass sie mit diesem Interview den Afghan*innen in Bremen ein Gesicht und eine Stimme gegeben hat.